Lemgo . Wirtschaft, Psychologie, Mensch – diese drei Begriffe mögen auf den ersten laienhaften Blick wenig miteinander zu tun haben. Doch bei genauer Betrachtung wird schnell klar, dass diese drei Begriffe sehr wohl zusammenhängen. Beispielsweise ist ein Mensch deutlich produktiver, wenn er sich an seinem Arbeitsplatz wohlfühlt. Gleichzeitig müssen Unternehmen darauf achten, wie sie sich selbst und ihre Produkte präsentieren.

Selbst das beste Erzeugnis kann sich kaum am Markt behaupten, wenn es nicht gut präsentiert wird. Genau hier, könnte man sagen, findet die Wirtschaftspsychologie Lösungen. Aber was genau dieses Forschungsfeld ausmacht und mit welchen Themen es sich beschäftigt, das wissen und erklären Barbara Steinmann und Michael Minge im Doppelinterview. Die beiden sind Professoren für Wirtschaftspsychologie an der Technischen Hochschule OWL in Lemgo. Und sie verraten schon mal: DIE Wirtschaftspsychologie gibt es gar nicht…

Frau Professor Steinmann, Herr Professor Minge, können Sie in einem Satz beschreiben, was ein Wirtschaftspsychologe macht?

Michael Minge: Wirtschaftspsychologie befasst sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen im ökonomischen Kontext, zum Beispiel am Arbeitsplatz oder Organisationen, und es geht um das Beschreiben, Erklären und Vorhersagen dieses Erlebens und Verhaltens sowie das Verändern zum Positiven.

Barbara Steinmann: Veränderungen setzen nicht nur bei Menschen an, sondern auch bei Rahmenbedingungen im Wirtschaftsleben.

Prof. Dr. Barbara Steinmann. Foto: pr/TH OWL

Okay, und nun etwas ausführlicher…

Steinmann: Dazu muss man sich vor Augen führen: Im Grunde gibt es DIE Wirtschaftspsychologie nach unserer Auffassung gar nicht, sie setzt sich eher aus mehreren Teildisziplinen zusammen. Klassische Fragestellungen sind beispielsweise „Wie bewegen sich Konsumenten im Markt?“ oder „Wie kann ich Konsumenten dazu bringen, bestimmte Kaufentscheidungen zu treffen?“ Mit derartigen Fragestellungen befasst sich die Konsumentenpsychologie als eine Teildisziplin. Davon zu unterscheiden ist zum Beispiel die Arbeits- und Organisationspsychologie. Sie befasst sich mit Fragen der Personalauswahl und -entwicklung, der Arbeitsgestaltung, der Führung und Gruppenprozessen im Unternehmen.

Minge: Ein Schwerpunkt, mit dem sich die Wirtschaftspsychologie hier in Lemgo beschäftigt, ist die Digitalisierung und die somit erfolgende digitale Transformation der Arbeitswelt und die damit verbundenen Auswirkungen. Das kann zum Beispiel der Einsatz digitaler Möglichkeiten und Verfahren bei der Personalauswahl sein, aber auch der Einfluss auf Produktion und Controlling. Mögliche Fragen in dem Zusammenhang sind: Kann so etwas eine KI übernehmen? Wenn ja, welche Rolle kann und sollte der Mensch dann noch spielen? Wo können technische Lösungen noch eingesetzt werden? Wie verändern sich dadurch Arbeitsanforderungen und -strukturen?

AI Artificial Intelligence technology digital for business industry analysis learning and communication system or automation robotic programming and futuristic concepts.

Das dürfte doch bestimmt für die meisten Menschen die wichtigste Frage sein, nämlich wie sie das direkt betrifft und was daraus folgt, oder?

Minge: Richtig, denn natürlich können bei solchen Prozessen schnell Ängste wie zum Beispiel vor dem Jobverlust entstehen. Und deswegen ist es auch so wichtig, die Menschen mitzunehmen auf diese Entwicklung und zu zeigen: „Entwicklungen können herausfordernd sein und tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen. Daraus erwachsen aber auch Chancen.“ 

Wie macht man das?

Minge: Dazu müssen erst einmal Sorgen ernst genommen und nicht achtlos beiseite gewischt werden. Schneller kann man sonst Akzeptanz nicht verlieren. Man muss schauen, woher diese Sorgen kommen und dann da ansetzen.

Aber können die Sorgen nicht auch berechtigt sein?

Minge: Sorgen haben oft mit Unsicherheiten zu tun. Wirtschaftspsychologen können natürlich nicht in die Glaskugel gucken und voraussagen, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt. Aber für einige Bereiche ist die Entwicklung absehbar, dass Menschen die dort heute arbeiten, in Zukunft etwas anderes machen werden. Und für solche absehbaren Entwicklungen sollte man sich frühzeitig gut aufstellen und vorbereitet sein.

Wie könnte das aussehen?

Steinmann: Beispielsweise verlagern sich Aufgaben, weil diese sich durch Digitalisierung verändern oder durch die Technik abgenommen werden. Dadurch können Mitarbeiter Freiräume für andere Aufgaben bekommen, für die sie vorher weniger Zeit hatten oder es kommen sogar neue Arbeiten hinzu.

So viel zum Tätigkeitsfeld, aber was zeichnet denn einen guten Wirtschaftspsychologen aus?

Minge: Dazu gehören analytische Fähigkeiten. Typisch ist, dass man neue Situationen von außen betrachtet und verstehen muss, ebenso die darin involvierten Menschen und die Rahmenbedingungen, in denen sie agieren. Erst darauf kann man eine Fragestellung entwickeln und schließlich empirische Daten sammeln. Und das ist gleich auch noch ein weiterer Punkt neben der Analysefähigkeit: Man muss mit Zahlen umgehen. Darüber hinaus ist aber auch ein tieferes Verständnis für das jeweilige Spezialgebiet nötig, mit dem sich der Wirtschaftspsychologe beschäftigt. Beispielsweise muss er nicht programmieren können, aber er sollte schon die Grundzüge theoretisch verstehen.

Prof. Dr. Michael Minge. Foto: pr/TH OWL

Steinmann: Für das Studium der Wirtschaftspsychologie nicht zu vergessen sind gute Englischkenntnisse. Denn ein Großteil der verfügbaren Literatur ist auf Englisch veröffentlicht worden, und es wird auch generell international publiziert. Deutschland ist zwar eine Hochburg bei der wichtigen Grundlagendisziplin Persönlichkeitspsychologie, doch das Fachpublikum ist international.

Minge: Ich möchte noch ergänzen: Wichtig sind auch Neugier, da man mit vielen Themen zu tun hat, aber auch die Fähigkeit, Frustration auszuhalten, weil zuvor aufgestellte Theorien sich mit dem Ergebnis widersprechen können. Kommunikationsfähigkeit gehört wahrscheinlich auch noch zu den entscheidenden Eigenschaften, da man als Wirtschaftspsychologe mit vielen verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen zu tun hat. Und nicht zuletzt muss sich der Wirtschaftspsychologe seiner Verantwortung bewusst sein.

Oh, inwiefern denn das?

Minge: Zum Beispiel weil er mit seiner Arbeit und seinem Wissen dazu beiträgt, wie ein Einstellungstest aussieht, der wiederum die berufliche Zukunft eines Bewerbers beeinflussen kann.

Da sind wir doch jetzt an einem guten Punkt. Denn wo wird im Alltag die Arbeit der Wirtschaftspsychologen sichtbar?

Steinmann: Es gibt enorm viele Prozesse, bei denen die Wirtschaftspsychologie helfen kann, um beispielsweise Ergebnisse noch effizienter zu erreichen oder zum Beispiel Rahmenbedingungen in Organisationen gesünder zu gestalten. Wie lassen sich neue Technologien im Unternehmen einführen, ohne dass die Mitarbeiter mit Ablehnung oder Unverständnis reagieren? Das wäre eine typische Frage. Allerdings tritt die Wirtschaftspsychologie selten als solche direkt zu Tage, sie gestaltet viele Prozesse eher im Hintergrund. Am ehesten wird sie vielleicht im Bereich Personalentwicklung und Personalauswahl offensichtlich.

Minge: Oder ein anderes Beispiel: Der Wirtschaftspsychologe macht ja nicht das Werbeplakat. Aber er kann mit seiner Arbeit dazu beitragen, wie die Ausrichtung des Plakats ist und welche Zielgruppe wie angesprochen werden soll.

Wie genau entstand denn eigentlich das Forschungsfeld?

Steinmann: Das ist ebenso wenig eindeutig zu beantworten wie die Frage, was Wirtschaftspsychologie ist. Man kann es nicht generalisieren, denn es kommt auf das Themenfeld an, mit dem sich der jeweilige Wirtschaftspsychologe beschäftigt. Mein Themenfeld, die Führungspsychologie, hat ihren Ursprung im beginnenden 20.Jahrhundert. Aber worauf es bei Führung ankommt, das beschäftigt die Menschen schon seit jeher. Anders sieht es bei der Personalauswahlforschung aus. Einen großen Schub bekam diese Teildisziplin zum Beispiel durch breit angelegte psychologische Auswahltests der US Army im Ersten Weltkrieg. Mit Hilfe von Intelligenztests wurden hier insbesondere Offiziersanwärter ausgewählt. Aus dieser Forschung sind in den USA in den folgenden Jahrzehnten Auswahlverfahren für Hochschulen hervorgegangen.

Group of business workers working together. Partners stressing one of them at the office

Minge: Die Arbeitspsychologie kam mit der Industrialisierung im frühen 20. Jahrhundert auf. Dabei stand die Produktionssteigerung im Fokus. Später entwickelte sich die Organisationspsychologie. Maßgebend war hier die Hawthorne-Studie in den 1920er-Jahren. Eine wichtige Erkenntnis: Mitarbeiter müssen in den Organisationsprozess eines Unternehmens eingebunden werden, um sie bei Entwicklungen mitzunehmen. Denn die Arbeitsleistung hängt nicht nur von den eigentlichen Bedingungen ab, sondern auch von sozialen Faktoren, zusammengefasst: wie sich der Mitarbeiter am Arbeitsplatz fühlt. Das ist der Ursprung dessen, was heute als Human Ressources bezeichnet wird.

Kehren wir zurück in die Gegenwart. Warum sollte kein Unternehmen auf Wirtschaftspsychologie verzichten?

Steinmann: Die Wirtschaftspsychologie kann helfen, die Entwicklung der Mitarbeiter positiv zu beeinflussen. Sie ergründet, wie die Zufriedenheit und Gesundheit gesteigert werden können, dazu gibt es eine gute Studienlage. Mitarbeiter erlangen bei der Verrichtung ihrer Tätigkeit im Laufe der Zeit Kompetenz. Dadurch steigert sich auch die persönliche Weiterentwicklung. Sind die Mitarbeiter zufrieden, verstärkt sich dieser Effekt.

Was ist denn im Augenblick das bestimmende Thema in der Wirtschaftspsychologie?

Minge: Das ist ganz klar die Digitalisierung, die ist auch ein Schwerpunkt hier in Lemgo. Wie können auf Basis von Zahlen und Daten Ergebnisse erarbeitet werden, wie können diese nutzbar gemacht werden, das sind die Fragen, um die es unter anderem geht. Dadurch lassen sich Prozesse bzw. die Personalauswahl verbessern. Darüber steht auch die Frage: Wollen wir das als Gesellschaft? Und wenn ja, wie? Da spielt die Frage rein, wo dazu Bereitschaft besteht! Es geht da um das Verhältnis von Mensch und Technik. Ein Algorithmus kann auf Basis von Daten nüchterne, selbstständige Entscheidungen treffen, aber ist das gewünscht?

Vielen Dank für das Interview .

Das Interview führte Benjamin Marquardt, Redakteur des Lippischen Medienhauses.