Herford/Minden-Lübbecke . Seit Jahren wird in Wirtschaft und Gesellschaft über einen Arbeitskräftemangel beziehungsweise Fachkräftemangel gesprochen. Aus heutiger Sicht bleibt der Kräftemangel ein Thema für die kommenden Jahre. In einem schriftlich geführten Interview beleuchten die Zweigstelle Minden der IHK Ostwestfalen zu Bielefeld und Frauke Schwietert diesen Themenkomplex.

Frau Schwietert, wie ist die momentane Situation beim Fachkräftemangel im Kreis Minden-Lübbecke?

Der Fachkräftemangel ist auch im Kreis Minden-Lübbecke spürbar. Aktuell haben wir im Kreis eine Mangelsituation in vielen, sehr unterschiedlichen Berufsgruppen: Vom Klassiker der Pflege über Produktions- und Fertigungsberufe wie den Metall- und Maschinenbau bis hin zu Verkaufsberufen. Der Personalmangel hat mittlerweile fast jede Branche erreicht.

Ist die Prognosesicherheit (Ausblick) für den Arbeitsmarkt aktuell ähnlich gut wie in den Jahrzehnten vor dem Coronajahr 2020?

Der demografische Wandel und damit der Fachkräftemangel war auch damals schon eine große Herausforderung, aber diese Prognosezahl ist relativ gut berechenbar und valide. Das gilt auch noch heute. In der Zeit vor Corona hat sich der Arbeitsmarkt bei konjunkturellen Schwankungen zunehmend robust gezeigt. Strukturelle Verschiebungen zwischen Branchen und Berufen werden aber auch durch eine Vielzahl weiterer Faktoren beeinflusst. Dazu gehören die digitale und ökologische Transformation, Globalisierung, geopolitische Auseinandersetzungen, Zölle und andere unerwartete Ereignisse. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Multidimensionalität.

Was werden die Hauptfaktoren sein, die sich in den kommenden Jahren auf den Fachkräftemangel auswirken?

Die Faktoren, die sich in den kommenden Jahren auf den Fachkräftemangel auswirken werden, sind vielfältig und miteinander verflochten. Die geburtenstarken Jahrgänge – die sogenannten Babyboomer – gehen in den Ruhestand und die nachfolgenden Generationen sind quantitativ kleiner. Durch qualifizierte Zuwanderung oder die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung insbesondere von Frauen in Betreuungs- und Pflegeverantwortung könnte diesem Effekt entgegengewirkt werden. Auf der anderen Seite erfolgt weiterhin ein Strukturwandel von der Produktion zur Dienstleistung. Auch die ökologische Transformation wird in Zukunft eine erhebliche Dynamik auf dem Arbeitsmarkt entfalten. Ebenso führen Automatisierung und Digitalisierung zu einer Veränderung der Berufe. Manche fallen ganz weg und neue Berufe entstehen. Aber technischer Fortschritt führt nicht per se zu weniger Arbeit, sondern größtenteils zu einer Verschiebung des Arbeitskräftebedarfs.

In welchen Jahren wird aus heutiger Sicht der Fachkräftemangel seinen Höhepunkt erreichen?

Die Entwicklung des demografischen Wandels lässt sich relativ sicher prognostizieren: Allein in den nächsten zehn Jahren werden im Kreis Minden-Lübbecke rund ein Viertel der aktuell beschäftigten Fachkräfte das 65. Lebensjahr erreicht haben. 2050 werden in Ostwestfalen-Lippe ungefähr 170.000 Personen weniger im erwerbsfähigen Alter sein als es heute noch der Fall ist. Schauen wir uns lediglich die Alterspyramide an, dann sehen wir: Der Anteil der erwerbsfähigen Menschen an der Gesamtbevölkerung im Kreis Minden-Lübbecke wird voraussichtlich in den Jahren 2039 und 2040 seinen Tiefststand erreichen. Dann sind es nur noch rund 58 Prozent – zum Vergleich: Heute sind es 64 Prozent.

Viele Berufe werden sich unter anderem durch Fachkräftemangel verändern, neu entstehen oder verschwinden. Mit welchen Begriffen können diese Veränderungen beschrieben werden?

Durch den strukturellen Wandel, also die Veränderung der Wirtschaftsstruktur vom Industrie- zum Dienstleistungssektor, oder durch die ökologische Transformation werden Berufe verschwinden und andere entstehen. So wird sich zum Beispiel der Anteil von umwelt- oder klimaschutzbezogenen Kompetenzen (Green Skills) weiter erhöhen. Die Anpassung an neue ökologische und technologische Anforderungen wird also zu Veränderungen innerhalb von Berufsbildern aber auch zu Verschiebungen zwischen den Berufen führen.

Auch durch die Digitalisierung werden sich die bestehenden Berufe stark verändern. Im Rahmen der Automatisierung werden Routinetätigkeiten der menschlichen Arbeit durch Maschinen oder Software ersetzt. So könnten beispielsweise schon heute sechs von acht wesentlichen Kerntätigkeiten eines/r Kaufmann/-frau für Büromanagement von einer Maschine oder einem Computer ersetzt werden. Dabei ist aber insgesamt zu bedenken, dass nicht alles, was technisch möglich ist, auch gemacht wird. Hier spielen ethische, juristische und ökonomische Erwägungen eine große Rolle.

In welchen Berufen wird KI den Kräftemangel deutlich entspannen oder deutlich verstärken?

Generell betrachtet kann KI in vielen Berufsbildern Anteile von Aufgaben übernehmen und damit den Arbeitskräftemangel insgesamt entspannen. Allgemein in der Sachbearbeitung, Buchhaltung oder im Kundenservice durch Texterkennung, automatische Vorgangsprüfungen und Standardantworten. Im Fertigungsbereich in der Maschinenbedienung und Qualitätskontrolle – zum Beispiel durch vorausschauende Wartung oder visuelle Inspektion. Oder in der Logistik durch automatisierte Lager oder Routenoptimierung. In welchen Berufen sich der Kräftemangel durch KI deutlich entspannen wird, ist jedoch schwer zu sagen. Mit KI sind viele Dinge möglich, die Umsetzung ist aber ein dynamischer Prozess mit vielen Entscheidungsfaktoren. Insofern sind das Entscheidungen auf individueller Unternehmensebene, für die jeder Betrieb eine andere Antwort finden wird.

Aus dem verstärkten Einsatz von Technologie folgt auf der anderen Seite, dass auch mehr Personal für die Programmierung und Weiterentwicklung von KI und anderen Technologien benötigt wird. Also entsteht ein wachsender Bedarf an Informatiker*innen, Datenanalyst*innen, KI-Ingenieur*innen und ähnlichen Berufen.

Gibt es Besonderheiten beim Fachkräftemangel im Kreis Minden-Lübbecke?

Grundsätzlich betrifft das Problem des Fachkräftemangels alle Regionen. In welchen Branchen der Mangel besonders stark ist, ist dann häufig von der lokalen Unternehmensstruktur geprägt. Im Kreis Minden-Lübbecke gibt es einen Schwerpunkt im verarbeitenden Gewerbe und im Gesundheitswesen – hier ist der Bedarf aufgrund des demografischen Wandels entsprechend besonders groß.

Wo sehen Sie aktuell die größten Engpässe (Branchen, Qualifikationen) auf dem regionalen Arbeitsmarkt?

Der Mangel ist in der Region wie oben beschrieben insbesondere in den Produktions- und Fertigungsberufen stark ausgeprägt. Auch in den Gesundheits- und Sozialberufen sowie in den Bau- und Ausbauberufen besteht ein hoher Bedarf an Fachkräften. Aber nicht nur auf der Fachkraftebene – auch Meister*innen und Techniker*innen sowie akademisch gebildete Expert*innen werden in einigen Branchen zunehmend gesucht.

Was würden Sie Personen empfehlen, die sich gerade in der Orientierungsphase zur Wahl für eine Ausbildung befinden?

Zunächst möchte ich ausdrücklich bekräftigen, dass die Entscheidung für eine Berufsausbildung die Richtige ist. Junge Menschen, die ohne Ausbildung – oder Studium – in die Arbeitswelt einsteigen, haben schlechtere Chancen. Die Stellen auf geringem Qualifikationsniveau werden eher ab- als aufgebaut. Die Berufswahl sollte nach den individuellen Interessen, Stärken und Fähigkeiten getroffen werden. Generell sollte man sich nicht zu stark auf nur einen Berufswunsch fokussieren, sondern einige Alternativen mit in den Blick nehmen. Das erhöht die Chance auf eine ausgewogene Entscheidung. Worauf sich die Berufseinsteiger*innen von heute aber generell einstellen sollten: Für sie werden technologische und digitale Kompetenzen im Job zunehmend wichtiger. Beispielsweise werden grundlegende Kenntnisse im Umgang mit Maschinen, Computer und Software immer mehr vorausgesetzt. Auch die Adaptionsfähigkeit, also sich in neue Arbeitsabläufe und digitale Hilfsmittel einzuarbeiten, ist heutzutage ein wichtiger Soft Skill.

In welchen Berufsfeldern oder Zielgruppen sehen Sie aktuell den größten Bedarf an gezielten Weiterbildungsmaßnahmen?

Im Kontext der digitalen Transformation und der strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt ist die Notwendigkeit der Weiterbildung in allen Berufsfeldern gegeben. Die Arbeit der Zukunft wird immer komplexer, damit nehmen die Anforderungen an die Kompetenzen der Beschäftigten unaufhaltsam zu. Der Begriff des ’Lebenslangen Lernens’ hat deshalb noch mal erheblich an Bedeutung gewonnen. Im Rahmen des demografischen Wandels ist die Qualifizierung im Gesundheitswesen und zusätzlich aufgrund des Strukturwandels im verarbeitenden Gewerbe aktuell von großer Bedeutung. Die Zielgruppe sind grundsätzlich alle Arbeitnehmer*innen – unabhängig davon, ob sie sich in Beschäftigung befinden oder aktuell einen Job suchen.

Was würden Sie Unternehmen zum Thema Fachkräftemangel empfehlen?

Meine Empfehlung ist es, hier mehrgleisig zu fahren. Unternehmen sollten auf Ausbildung, Qualifizierung und Fachkräfteeinwanderung setzen. Mit Blick auf die aktuelle Situation am Ausbildungsmarkt im Kreis Minden-Lübbecke möchte ich zunächst dafür plädieren, weiter intensiv auszubilden. Der Kreis war lange Zeit eine Vorzeige-Region, was die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen angeht. Aber mit Stand April verzeichnen wir aktuell rund 20 Prozent weniger gemeldete Ausbildungsstellen als noch im letzten Jahr. Da kann sich noch viel tun, aber das ist die aktuelle Wasserstandsmeldung. Leider nimmt der demografische Wandel keine Rücksicht auf die angespannte wirtschaftliche Lage. Wenn jetzt eine zu große Lücke bei der Nachwuchskräftegewinnung entsteht, dann ist das für die Zukunft kaum mehr nachzuholen.

Außerdem ist eine kontinuierliche Weiterqualifizierung des bestehenden Personals zu empfehlen. Zusätzlich können Arbeitszeitpotenziale von Mitarbeiter*innen besser ausgeschöpft werden, indem beispielsweise flexiblere Arbeitszeiten ermöglicht werden. Auch arbeitslosen Menschen sollte eine Chance gegeben werden. Darüber hinaus sollten die verschiedenen Möglichkeiten der Fachkräftegewinnung aus dem Ausland genutzt werden. Unser Arbeitgeber-Service unterstützt gerne in allen genannten Bereichen mit Beratung, Vermittlung und Förderung.

  • Hinweis: Das Interview führten Mitarbeitende der Zweigstelle Minden der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen. Es erschien im Lagebericht, Frühjahr 2025.